Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn by Hugues Pascale

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn by Hugues Pascale

Autor:Hugues, Pascale [Hugues, Pascale]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644027312
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2013-09-19T22:00:00+00:00


Viele Jahre nach dieser Entdeckung nimmt Joachim an einer Tagung in Hamburg teil. Während der Mittagspause streicht er um das Haus seines Vaters Albert herum. Auf dem Balkon steht ein alter Mann. Zwanzig Meter von ihm entfernt. Joachim geht über den Bürgersteig. Jetzt bloß nicht stolpern, nicht den Schritt beschleunigen, auch nicht stehen bleiben, nicht auffallen. Er hat die Hände in den Taschen und gibt sich gleichgültig. Was für eine absurde Situation. «Was hätte ich denn zu ihm sagen sollen? ‹Guten Tag, ich bin dein Sohn!› Ich wusste, dass er verheiratet war und Kinder hatte. Welche Probleme hätte ich heraufbeschworen? Was hätte ich davon gehabt? Er war ein Fremder. Meine Zeugung ist das Einzige, was uns miteinander verbindet.»

Die ganze Szene dauert vier Minuten. Joachim biegt um die Straßenecke und kehrt zu seinen Kollegen zurück.

Sobald Joachim das Abitur in der Tasche hat, geht er weg. Er studiert Mathematik und Physik in Marburg, eine linke, progressive Universität. Joachim will sich freistrampeln. In Marburg liest er Wolfgang Abendroth, die Standardwerke über die deutsche Arbeiterbewegung, liebäugelt mit der KPD und lässt sich Haare und Bart wachsen. Es ist die Revanche für den «ordentlichen preußischen Haarschnitt», den seine Großmutter ihm verpassen ließ, wenn sie ihren Enkel zum Hagener Friseur brachte. «Ich kann mir zwar nicht vorstellen, was eine Frau daran schön finden kann, aber das musst du wissen!», befindet die Mutter. Genau wie für Liselotte bei ihrer Ankunft in Berlin besteht der erste Schritt in die Freiheit in Marburg in einer neuen Frisur. Auch die Bundeswehr will Joachim abschütteln. Nach Absolvierung des ersten Offizierslehrgangs stellt er nachträglich den Antrag auf Wehrdienstverweigerung. Als er seiner Mutter davon erzählt, beglückwünscht sie ihn. Diese Bundeswehr ist sowieso keine richtige Armee wie die Kaiserliche Armee ihres Vaters. «Ein Glück, dass du nicht zu diesem Haufen gehst! Man kann die nicht ernst nehmen! Zu lasch!»

Joachim Bickenbach erinnert sich an einen Nachmittag vor ein paar Jahren. Er besuchte seine Mutter in Hagen. In der Mitte des Couchtisches stand eine hölzerne Bonbonniere. Um sie herum die Porzellantassen für den Kaffee, das Foto des Testfliegers Wagner in seinem Lederrahmen, ein Porträt von Joachim als Kind, eine Kerze und eine Packung Muratti. Liselotte Bickenbach hatte ihre Inszenierung minutiös vorbereitet. Die Gegenstände ausgewählt und auf dem Tischchen angeordnet. In der Bonbonniere liegt auf einem Wattebausch eine rote Kugel, eine mit dunkelbrauner Flüssigkeit gefüllte Kapsel. Joachim hat immer damit gelebt, «sie gehörte zum Haushalt wie ein Pudel oder eine Katze». Er wusste, dass die Kapsel in einer kleinen Geldkassette mit Schloss aufbewahrt wurde. Und er wusste auch, wo seine Mutter den Schlüssel versteckte. Es ist die Zyanidkapsel, die Liselotte 1945 in Flensburg von einem Offizier des OKM bekommen hatte. Liselotte hatte eine Pistole gegen die Kapsel getauscht, weil sie nicht mit einer Waffe umgehen konnte. Sie wollte sich bis Swinemünde durchboxen, den ganzen, von Russen übersäten Osten durchqueren. Falls sich eine Russenkompanie auf sie stürzen sollte, war sie gewappnet. Und an jenem Nachmittag verkündet die Mutter ihrem Sohn, während sie ihm den heißen Kaffee serviert: «Die möchte ich für den Fall behalten, dass dir etwas passiert.



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